Ein Fünftel der Welt fehlt, Ausstellung von Jürgen O. Olbrich

 

1/5 der Welt fehlt
Jürgen O. Olbrich im ausstellwerk Huglfing

Einführung 09.05.2014
Jürgen O. Olbrichs Projekt „1/5 der Welt fehlt“ macht nun nach Berlin und vor Zürich Station im ausstellwerk. Der Platz ist gut gewählt: Der Bahnhof als Start und Ende einer Reise, denn das Material der Installation besteht aus –zig Tausenden von Ansichtskarten, zumeist aus Urlaubsreisen verschickt, denen jeweils die linke obere Ecke fehlt. Den Bahnhof als Ort des Wechsels, der Bewegung haben bereits BSW (BoslSchiedWeber) voriges Jahr mit ihrer Installation „St. Transit“ thematisiert, und die Ausstellung von Beate Oehmann 2012 hieß „Ein Blick“, den die Reisenden vom Zug aus auf ihre Fahneninstallation am Bahnhof werfen konnten. Dies ist uns als ausstellwerk wichtig: dass die Künstlerinnen und Künstler Bezug auf die besondere Ausstellungssituation nehmen, den Raum am Bahnhof mit seinen Spezifika und seinem besonderen Publikum berücksichtigen.
Der Ausstellungstitel „1/5 der Welt fehlt fehlt“ als Feststellung formuliert, wirft eher Fragen auf: Ist die Postkarte ein Symbol der Welt?
Fehlt in der Ausstellung geografisch ein ganzer Kontinent?
Wo ist das restliche Fünftel?
Beim fehlenden Fünftel kam mir gleich die Assoziation zu Sigmar Polkes Bild von 1979 „Höhere Wesen befahlen rechte obere Ecke schwarz malen“. Polke ironisiert damit den Schaffensprozeß des genialen
Künstlers, der nicht planend und gestaltend malt, sondern nur umsetzt, was ihm „höhere Wesen“ eingeben.
Mit dem fehlenden Fünftel, ist es ähnlich: es ist kein künstlerisch geplanter Eingriff, denn die Kartenempfänger haben die Briefmarke herausgeschnitten oder –gerissen. Was Olbrich hier in der Ausstellung schafft, ist die Neu-Ordnung von Vorhanden.
Bereits 1985 hat Olbrich mit Stanislav Horvath zu einer Ausstellung einen Katalog produziert mit dem Titel: „An den Rändern der Wirklichkeit“. Dies ist eine Grundlage der Kunst des Jürgen O. Olbrich: sich an den Rändern der Welt / der Realität und auch der Kunst zu bewegen, sie zu ändern und auszudehnen; diese Grenzen überhaupt bewußt zu machen. Da liegt die Chance, die Welt zumindest in Teilen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
Der Mailart-Künstler Roland Halbritter hat dies zumindest mit der Einladung zu dieser Ausstellung getan: Er hat das fehlende Fünftel ergänzt, in seinen Worten die Welt wieder „heil“ gemacht.
Andererseits: Das fehlende Fünftel mit dem Postwertzeichen, vulgo Briefmarke, fehlt vielleicht gar nicht: Es wurde wahrscheinlich mehr geschätzt als die restlichen 4/5. Eingeordnet in Alben, sortiert und archiviert. Auch eine Weltordnung: geografisch und zeitlich; die Briefmarke als Symbol der Welt.
Vielleicht geht es uns allen so? Wir sehen nur den Teil, den wir kennen und schätzen: der größere Teil (der Welt) erscheint uns nicht so wichtig.
Die zerrissene Ansichtskarte landet früher oder später im Altpapier. Inhaltlich erschließt sich durch die Ansichtskarten auch ein Stück Zeitgeschichte: Wer schreibt heute noch Karten aus dem Urlaub und hebt diese auch noch auf?
Wir sehen auf den Vorderseiten dass, was uns/unseren Eltern im Urlaub wichtig war: Stimmungsvolle Landschaften, die die Atmosphäre des Urlaubszieles standardisiert erfassen: Strand, Sonne, Berge, Stadtansichten, Hotels, Witzbilder usw.
Die Kartenrückseiten interessieren den Künstler nicht; ihm geht es um das Motiv.
Inzwischen gibt es Bücher mit Titeln wie „Öde Orte“ oder „Langweilige Ansichtskarten/boring postcards“ des Fotografen Martin Parr. Viele der ausgestellten Karten würden berechtigterweise auch dort ihren Platz finden können.
Wir sind heute auch im Urlaub auf Email, skype und andere Online- Medien eingestellt und können unsere Urlaubsgrüße selbst gestalten.
Einerseits vergänglicher, ohne materiellen Rest; andererseits beständig gesichert, ob wir wollen oder nicht, irgendwo in den Tiefen des Internets.
Zurück zum Altpapier und den Karten: Zum Glück gibt es die „Paper Police“. Deren Gründer und Aktivist Jürgen O. Olbrich sammelt und schützt die Relikte vor der Vernichtung und rettet sie vor dem Vergessen. In regelmäßigen Rundgängen kontrolliert die „Paper Police“ Altpapiercontainer und bringt Postkarten – und auch anderes Material - wieder zurück in die Welt, mit ihrer Beschädigung; zunächst gesammelt und auf weitere Verwendung wartend bis zum Erscheinen in der Öffentlichkeit in einem anderen Kontext.
So gibt uns Jürgen O. Olbrich eigentlich das fehlende 4/5 der Welt zurück, er bringt es wieder ins Bewußtsein.
Zwei Sätze veranschaulichen die Arbeitsweise des Künstlers: „art is where you find it“
Die Aussage erklärt sich sehr anschaulich durch das aktuelle Projekt „Mit dem Mund geformt, mit den Füssen getreten“. Der kryptische Titel lässt sich schnell lösen: Olbrich liest ausgespuckte Kaugummis von der Straße auf und überträgt die Formen vergrößert auf Teppiche.
Es ist bereits alles vorhanden; Jürgen O. Olbrich stellt es nur in andere
Zusammenhänge. „my ideas appear when I am not there“.
Die Kunst ist auch in der Leere, in der Abwesenheit des Künstlers zu finden; sie entsteht beim Betrachter auch im Nachhinein, wenn die Ausstellung längst vorbei ist.
Zusammentragen, ordnen und wieder der Welt zurückgeben. Die Kunst ist da, wir müssen sie nicht erfinden, sondern finden. Die Postkarte „Statement“ des Künstlers veranschaulicht dies: „This sentence is made for you from 100% recycled material.“
Archäologen und Historiker beschäftigen sich auch mit historischen Abfallgruben, Latrinen und schließen aus diesen Relikten auf das Leben unserer Vorfahren. Jürgen O. Olbrich macht etwas ähnliches: Er gibt uns als Zeitgenossen unseren „Abfall“ zurück, nicht mahnend mit erhobenen Zeigefinger, und nicht wissenschaftlich erklärend, sondern als Fluxuskünstler auch mit Humor um die Ecke gedacht. „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ (Francis Picabia).
Jürgen O. Olbrich und die Paper Police leisten ganze Arbeit: Ein bedrucktes Stück Pappe im Format 10x15 cm liefert Anregungen zu grundlegenden philosophischen und künstlerischen Fragen. Er hilft uns, uns zu verorten, und Werte zu hinterfragen.
Mehr kann man von einer Kunstausstellung kaum erwarten.
(Text: Thorsten Fuhrmann M.A.. Alle Rechte beim Autor)

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